Regine Mispelkamp hat es geschafft: In Tokio erfüllte sie sich bei den Paralympics einen Traum. Am Ende der Spiele dürfte sie beim olympischen Debüt die Bronzemedaille in der Kür mit nach Hause nehmen. Die Freudentränen der Sportlerin, die im Dezember 2020 ihren 50. Geburtstag feierte, gingen um die Welt. Vorangegangen war ein innerer Kampf um die Akzeptanz der eigenen Erkrankung, aber auch ein menschlicher Reifeprozess, wie sie heute betont. „Ohne die Auseinandersetzung mit der Krankheit hätte ich niemals die innere Freiheit gewonnen, welche ich heute besitze“, betont sie. Wir haben Regine Mispelkamp in Geldern im Rheinland besucht.
Medaillentraum erfüllt
Wenn man heute mit Regine Mispelkamp spricht, erlebt man eine Person, die mit sich und der Welt zufrieden ist, die ihre Pferde und den Sport über alles liebt und die gelernt hat, sich selbst zu akzeptieren. Natürlich haben zu diesem Prozess auch die „bronzenen Momente“ nach der Kür in Tokio beigetragen. „Dort wurde mir bewusst, dass ich alles richtig gemacht habe“, erinnert sich die Para-Dressurreiterin. „Von der Auswahl meines Pferdes für die Spiele, die ja alles andere als unumstritten war bis hin zum persönlichen Umgang mit meiner Erkrankung.“
Man erinnert sich gern an das Interview als Regine Mispelkamp die Medaille sicher war. Sie konnte die Tränen vor den Fernsehkameras nicht zurückhalten – und wollte das auch gar nicht. Es war dieser eine Moment der puren Freude, in dem alles perfekt ist.
Regine Mispelkamp hat lange darauf hingearbeitet und sie ist durch die Tiefen des Lebens ebenso gegangen, wie sie auf zahlreiche wunderschöne Momente blicken kann. All das hat sie zu dem Menschen gemacht, der sie heute stolz ist zu sein.
Anfänge auf einem Olympiateilnehmer
Die ersten Ritte liegen nahezu ein halbes Jahrhundert zurück. Durch ihre Eltern waren Regine und ihre knapp zwei Jahre ältere Schwester frühzeitig aufs Pferd gekommen. „Meine Eltern hatten bereits in jungen Jahren Kontakt zu Pferden, sind geritten, haben dies allerdings nie turniermäßig weiter ausgebaut. Meine Mutter war immer als Freizeitreiterin unterwegs und mein Vater probierte zwar Springen und Vielseitigkeit aus, aber nicht als Leistungssport“, erklärt die Erfolgsreiterin.
Gemeinsam mit der Schwester tobte sie zunächst auf Ponys und Eseln durch die Wälder. „Meine große Schwester hatte bereits ein eigenes Pferd, während ich das sehr große Pferd von meinem Vater mit reiten durfte. Ich war damals klein für mein Alter und wir beide müssen ein witziges Bild abgegeben haben.“
An ihre Anfänge im Turniersport erinnert sich Regine Mispelkamp ebenfalls noch sehr gut. „Meine Eltern waren der Ansicht, dass wir Kinder nur von erfahrenen Pferden wirklich lernen könnten. Eines Tages bot sich die Möglichkeit einen Wallach zu kaufen, der für Irland bei Olympischen Spielen am Start gewesen war. Er war nicht mehr in Top-Form, aber für unsere einfachen Prüfungen war es in Ordnung. In unserem allerersten gemeinsamen Parcours benötigte ich allerdings erst einmal eine volle Runde, um ihn überhaupt auf den ersten Sprung zuzureiten. Den haben der Schimmel und ich dann auch erfolgreich bewältigt, nur gab es beim zweiten Hindernis noch einmal das gleiche Problem und die nächste „Ehrenrunde“. Das Springen war für uns dann schon vorbei, aber eine lustige Erinnerung bleibt. Und es war der Anfang meiner Reiterkarriere…“, beschreibt Regine Mispelkamp.
Klaus Reinacher, Paul Schockemöhle, Franke Sloothaak und Ludger Beerbaum – das sind nur einige der illustren Namen, mit denen Regine Mispelkamp als Jugendliche trainierte. Mit 15 nahm sie an den Landesmeisterschaften im Springen teil.
Labor oder Reithalle?
Doch dann kam das Abitur und Regine Mispelkamp hörte den altbekannten Satz, dass sie etwas „Vernünftiges“ lernen sollte. „Also machte ich eine Ausbildung zur MTA. Während dieser Zeit ritt ich für mehrere Gestüte deren Hengste, um mir etwas dazuzuverdienen und alles finanzieren zu können. Meine Eltern hatten sich gerade getrennt, es war nicht so einfach“, erzählt sie.
Als sie die Ausbildung beendet hatte, wollte Regine Mispelkamp ihren Traum von einem Job in der Krebsforschung verwirklichen. „Doch der einzige Arbeitsplatz, der sich mir allerdings bot, war die Auswertung von Blutgruppen im Labor. Und spätestens da stand ich dann am Scheideweg: Sollte es wirklich meine Aufgabe sein, mein Leben lang Blutgruppen zu analysieren? Immer mehr Leute um mich herum sagten mir, dass ich doch lieber das Reiten zu meinem Beruf machen sollte. Ich absolvierte daraufhin die Bereiterprüfung, heute das Berufsbild „Pferdewirt Klassische Ausbildung“. Durch die vielen Pferde, die ich vorab schon unter dem Sattel gehabt hatte, war ich bereits recht routiniert und konnte die Prüfung mit Stensbeck-Plakette bestehen.“ Später erhielt sie auch nach der Prüfung zur Pferdewirtschaftsmeisterin die begehrte Stensbeck-Plakette für außergewöhnliche Leistungen.
Ab 1997 machte sich die Reiterin mit einem Turnier- und Ausbildungsstall selbstständig. „Eines Tages bekam ich dort ein Pferd unter den Sattel, das absolut untalentiert als Springpferd war“, lacht Regine Mispelkamp. „Mein Ehrgeiz war geweckt und ich wollte das Pferd von nun an unter dem Dressursattel fördern. Das war natürlich erstmal eine Veränderung, an die ich mich gewöhnen musste. Der Springsport ist einfach reeller, man ist von keinerlei Noten abhängig.“
Das besagte Pferd förderte die Ausbilderin vor seinem Verkauf bis zur Klasse M. Langsam zogen immer mehr Dressurpferde in ihrem Stall ein. Nach einem Unfall im Parcours fokussierte sich Regine Mispelkamp noch mehr auf die Ausbildung von Dressurpferden. Alles lief bestens, doch dann folgte eines Tages im Jahr 2018 der Schock.
Diagnose Multiple Sklerose
„Schon mit 17 hatte ich kleinere Bandscheibenprobleme gehabt. Als ich dann nach einer neuerlichen Untersuchung aus der „Röhre kam“, sagte der Radiologe zu mir, dass ich zwar wieder einen Bandscheibenvorfall hätte, das aber überhaupt nicht mein Problem sei. Ich hätte Multiple Sklerose“, beschreibt Regine Mispelkamp. „Das war für mich und mein Umfeld ein Schock. Privat wirbelte es vieles auf und mein Mann trennte sich in dieser Zeit von mir. Ich konnte meine Erkrankung damals nicht wirklich annehmen. Ausschließlich meine Familie wusste davon. Ich steckte mitten in einem furchtbaren Strudel aus Gedanken daran, dass ich im Rollstuhl sitzen und nichts mehr machen könnte. Auch die Gespräche mit den Ärzten in jener Zeit brachten mich nicht weiter. Ich hatte mir geschworen, dass ich es nie jemandem zeigen und einfach weitermachen würde.“
Doch genau das war nicht so einfach. Einige Reiterkollege bemerkten, dass etwas nicht stimmte, hatten aber natürlich keine Ahnung, was es war. Schließlich war es Mispelkamps Trainerin Ulrike Nivelle, die sie zum „Coming Out“ und dem Schritt Richtung Para-Sport ermutigte. „Zunächst zeigte ich nur meinen Widerwillen. Ich hatte schlichtweg Angst, mit einem „Outing“ meine berufliche Existenz zu zerstören“, so Mispelkamp. „Ich wurde dann nach einigem Hin und Her in Grade 5 eingeordnet und hatte in Mannheim 2018 tatsächlich mein „Outing“ auf Look At Me Now. Meine Mitarbeiter wussten schon vorher Bescheid und standen voll hinter mir. Der großartige Erfolg in Mannheim gab mir recht, selbst wenn ich einige negative Äußerungen danach erleben musste. Das war allerdings für mich ein Reifeprozess, in Zuge dessen ich viele Menschen und mich selbst besser kennenlernte. Es war ein Jahr voller Emotionen, welche die gesamte Bandbreite abdeckten. Aber ich lernte mit meiner Erkrankung umzugehen. Es gab nach diesem Schritt nicht mehr ständig diesen Gedanken daran, was die anderen denken würden.“
Auf jeden Fall „durchziehen“
Nach den erfolgreichen Teilnahmen an den Weltreiterspielen und Europameisterschaften machte Corona auch Regine Mispelkamp das Leben einmal mehr schwerer. „Ich hatte mich gerade vermehrt auf Lehrgänge und Unterricht fokussiert und dann musste ich das wieder zurückschrauben. Dass es mittlerweile wieder möglich ist, freut mich sehr, denn die Arbeit mit jungen Reitern gibt mir ganz viel.“
Die Teilnahme an den Paralympics in Tokio wollte die erfolgreiche Sportlerin auf jeden Fall „durchziehen“, beschreibt sie. Mit welchem Pferd, das stand allerdings lange in der Schwebe. „Look At Me Now wird deutlich schneller nervös und hatte nach Tryon auch etwas mit den Nachwehen der Reise zu kämpfen. Ich fragte mich schon damals, ob ich ihm noch einmal einen Flug zumuten wollte“, erinnert sich Regine Mispelkamp. „Letztendlich fiel für mich die Entscheidung, an mein Erspartes zu gehen und mir ein Pferd zu kaufen. Dabei stieß ich auf Highlander Delight´s. Mein Bauchgefühl sprach sich in der Folge schon früh für Lights aus. Allerdings glaubten nur meine beiden Trainerinnen und ich an ihn, da sein Trab noch nicht so besonders war und er auch muskulär noch deutlich zulegen musste. 2020 wäre für uns beide wohl noch etwas zu früh gekommen, insofern hat Corona in diesem Fall etwas Positives bewirkt. Ich konnte mein neues Pferd langsam aufbauen und trainieren.“
Die ersten Qualifikationen ritt sie 2021 mit beiden Pferden. „In München zeigte sich Lights dann von seiner besten Seite und ich bemerkte, dass ich langsam alle für ihn begeistern konnte.“ Die Resultate in Tokio sprachen für sich.
„Es gab so viele unglaublich schöne Momente dort. Ich erinnere mich noch an ein Antraben von Lights in der Kür und ich fühle immer noch dieses tolle Gefühl, was er mir gab“, strahlt Regine Mispelkamp. „Da wusste ich, dass unsere Reise gerade erst begonnen hat und wir noch so viel gemeinsam erleben werden.“
„Never give up“
Ganz besonders waren vor Ort auch die Volunteers. „Sie haben uns immer Origami-Karten gebastelt. Und vor der Kür bekam ich ein kleines fuchsfarbenes Pferd. Auf der Karte stand „Never give up“ und sie ist mittlerweile gerahmt und hat einen Ehrenplatz bei mir zuhause bekommen.“
Wieder zu Hause darf „Lights“ erst einmal seine Auszeit genießen. Im kommenden Jahr möchte sie mit ihm die Qualifikationen zur Weltmeisterschaft bestreiten und ihn ansonsten im Regelsport weiter ausbilden. Der mittlerweile 16-jährige Rheinländer Look At Me Now, mit dem sie in Tryon zu den ersten Medaillen ritt, wird nur noch im Regelsport eingesetzt werden. Es ist Regine Mispelkamp wichtig, weiterhin zweigleisig zu fahren. Ohnehin gibt es in Sachen Para-Dressur nach wie vor zu wenige Veranstaltungen, weiß die Aktivensprecherin. Sie wünscht, dass die Para-Sportler besser auf Regelturnieren integriert werden und hofft diese Entwicklung voranzutreiben. „Meiner Meinung nach müssen wir den Para-Sport den Leuten näherbringen. Wir müssen mehr in die Öffentlichkeitsarbeit investieren. Ich sage immer, dass man nicht nur gefüttert werden kann, man muss sich sein Futter auch verdienen. Das bedeutet, dass wir etwaige Sponsoren einfach von uns und unserer Professionalität überzeugen müssen.“ Sie selbst darf sich seit diesem Jahr als ersten Schritt über eine Förderpatenschaft der Stiftung Deutscher Spitzenpferdesport freuen.
Regine Mispelkamp hat in den vergangenen Jahren ihren ganz eigenen persönlichen Reifeprozess mitgemacht. Heute sagt sie: „Ich fühle mich befreit und reite auch viel befreiter. Auf dem Pferd habe ich immer schon gut und gefühlvoll gesessen, aber jetzt kann ich für mich sagen, dass ich einen Touch Leichtigkeit und Coolness dazu bekommen habe, den ich so vorher nicht kannte. Mein Blick auf das Leben hat sich deutlich verändert und ich blicke nicht mehr negativ auf meine Erkrankung.“
Da ist es kein Wunder, dass sie berichtet, ihr Lebensmotto laute: „Verfolge dein Ziel und glaube immer an deine Träume. Es ist wichtig, immer weiterzukämpfen und das Bestmögliche daraus machen.“
Vormittags reitet sie ihre Pferde und nachmittags gibt Regine Mispelkamp Unterricht. Am Wochenende gibt es dann Lehrgänge. „Ich habe also von Montag bis Sonntag stets ein volles Pensum. Manchmal muss ich mich ein wenig bremsen, sodass ich nicht an meine körperlichen Grenzen gehe. Aber die Auszeiten, die ich brauche, gebe ich mir meist mit meinen Pferden, reite sie beispielsweise aus, gehe auf die Rennbahn oder bin einfach entspannt im Schritt unterwegs. Mit Pferden zusammen zu sein gibt mir unendlich viel.“
So hat sie bereits jetzt viele Pläne für die kommenden Monate und Jahre. Bis Los Angeles 2028 möchte sie auf jeden Fall auf höchstem Niveau weiterreiten. „Und die Spiele in Paris 2024 sind natürlich auch ein Traum, der schon in greifbarer Nähe scheint.“ Außerdem freut sie sich auf die Weltmeisterschaften im kommenden Jahr in Dänemark, „weil diese gemeinsam mit den Dressurreitern ausgetragen werden und ich das in Sachen Integration großartig finde.” Und privat? „Da freue ich mich gerade auf die erste Zeit mit meinem jungen Hund. Und irgendwann will ich mir den Wunsch von einem Tandem Paragliding-Flug erfüllen. Trotz meiner Höhenangst…“ Text: Alexandra Koch